Aus der Abgeschiedenheit ins Bundeskanzleramt: Selbstbildnis von Ernst Ludwig Kirchner | #80
Shownotes
Der Künstler dieser Kunstsnack-Folge war ein richtiges Schlitzohr. Ernst Ludwig Kirchner betrieb gezielte Imagepflege, um erfolgreich zu sein. So datierte er seine Werke zurück oder lobte unter anderem Namen als Kritiker in den höchsten Tönen seine eigene Kunst. Ob der Künstler damit aufflog und was es mit dem Viertelstunden-Akt der Brücke-Künstler auf sich hat, erzählt Kunstcomedian Jakob Schwerdtfeger in dieser Folge.
Das Werk in der Onlinesammlung der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe: https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Ernst-Ludwig-Kirchner/Der-Maler-Selbstbildnis/AC8692F0449B23BBC5920AB23EA3D603/
Zur Ausstellung in der Kunsthalle Karlsruhe mit Zeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner: https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/ausstellung/ich-muss-zeichnen/
Bleibt mit uns im Austausch, diskutiert mit der Community, sagt uns, was Ihr als Nächstes hören, oder was Ihr schon immer mal aus der Welt der Kunst wissen wollt.
Instagram: https://www.instagram.com/kunsthalle_ka/
Per Mail an digital@kunsthalle-karlsruhe.de
Ein Podcast der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe
Text: Jakob Schwerdtfeger
Redaktion: Lara Di Carlo, Tabea Schwarze
Idee: Daniela Sistermanns, Sarah Ball, Tabea Schwarze
Beratung: Thomas Frank
Ton und Schnitt: Lara Di Carlo
Sounddesign und Musik: Milan Fey, Auf die Ohren GmbH
Sprecher Intro und Outro: Martin Petermann, Auf die Ohren GmbH
Sprecherin der Rubriken: Lena Günther, Auf die Ohren GmbH
Foto: Bruno Kelzer | kelzer.de
Gestaltung: Pia Schmeckthal, Auf die Ohren GmbH
Transkript anzeigen
Kunstsnack. Ein Podcast der Staatlichen Kunsthalle KarlsruheAus der Abgeschiedenheit ins Bundeskanzleramt: Der Maler (Selbstbildnis) von Ernst Ludwig Kirchner, 1920
Der Künstler, um den es heute geht, ist ein richtiges Schlitzohr: Ernst Ludwig Kirchner. Kaum jemand hat so sehr Image-Pflege betrieben wie er. Kirchner inszenierte sich als armer, mittelloser Künstler, kam aber aus guten Verhältnissen. Er datierte diverse seiner Bilder zurück, um zu verschleiern, dass ihn bestimmte Ausstellungen und Kollegen beeinflusst hatten. So war er angeblich immer von selbst auf seine Idee gekommen und bei allem der Erste. Kirchner schrieb sogar Redaktionen an, nur weil sich in Zeitungsartikeln über ihn Schreibfehler eingeschlichen hatten. Wahnsinn…
Allerdings gab es einen Kunstkritiker, den Kirchner sehr schätzte: Louis de Marsalle. Der berichtete äußerst wohlwollend über Kirchner und lobte dessen Werke in den Himmel. Kein Wunder, denn Kirchner hatte sich diesen Kritiker einfach ausgedacht. Manche Zeitgenossen haben erst spät realisiert, dass sie komplett an der Nase herumgeführt wurden. Als zu viele Leute den Kunstkritiker kennenlernen wollten, ließ Kirchner ihn spontan sterben. Ey, das muss man sich mal klarmachen, dass ein Künstler da einfach seinen eigenen Kritiker erfindet. Naja, ihr wisst, was los ist, wenn ein gewisser Louis de Marsalle in Kommentaren schreibt, dass Kunstsnack der beste Podcast ever ist.
Und damit herzlich willkommen zu dieser Folge. Heute geht es um das Bild „Der Maler (Selbstbildnis)“ von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1920. Und natürlich befindet sich das Werk in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. So, ich denke, ich hab euch jetzt genug auf Kirchner und seine durchaus spezielle Art vorbereitet. Es warten noch einige Funfacts auf euch. Dann gehen wir rein, viel Spaß!
Der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe mit dem Comedian und Kunsthistoriker Jakob Schwerdtfeger.
Schaut euch das Bild dieser Folge gerne selbst an, in den Shownotes ist ein Link zur Abbildung.
Was gibt‘s hier zu sehen? Bildliche Beschreibung
Das Selbstbildnis von Kirchner zeigt den Künstler bei der Arbeit. Sitzend, Pinsel in der Flosse, den Blick starr nach vorne gerichtet. So weit, so normal. Aber auf diesem Bild sind einige Merkwürdigkeiten.
Merkwürdigkeit Nummer 1: Das ausgemergelte Gesicht des Künstlers sieht aus wie eine Mischung aus Kermit der Frosch und Garfield, denn die Haut ist grün und orange. In den Haaren wiederum finden sich verschiedene Blautöne. Es sieht ein bisschen so aus, als hätte Kirchner sich mit verschiedenen Farbtöpfen abgeduscht oder käme gerade von einem Paintball-Turnier.
Merkwürdigkeit Nummer 2: Auf dem Bild sitzt Kirchner an einem Tisch, allerdings ist dieser perspektivisch komisch gemalt, denn der Tisch ist total schief, als würde er nach vorne auf uns zu kippen. Die Vase auf dem Tisch müsste jeden Moment runterfallen, man hört es fast schon scheppern.
Merkwürdigkeit Nummer 3: Der Raum wirkt eng wie eine Fahrstuhlkabine und die Wände sind etwas schief. Der Raum ist außerdem so niedrig, würde der Künstler aufstehen, würde er voll gegen die Decke knallen. Dazu ist die offenstehende Tür orange, der Rest des Raumes ist grün, gelb und auch orange.
Ich fasse zusammen: Farbgebung und Perspektive in diesem Bild sind strange. Hier stimmt was nicht und dafür gibt es auch ein Wort: Expressionismus. Denn Kirchner war ein wichtiger Vertreter dieser Kunstströmung und die schauen wir uns jetzt mal näher an.
Der Epochen-Check
Die Hochphase des Expressionismus dauerte von 1905 bis Mitte der 1920er Jahre. Warum kann man den Anfang mit 1905 so klar benennen? In diesem Jahr gründet sich in Dresden die Künstlervereinigung Brücke. Kurzes Namedropping zu den Gründungsmitgliedern: Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein, Fritz Bleyl und ihr kennt ihn Ernst Ludwig Kirchner. Später kommt unter anderem noch der Maler Emil Nolde dazu.
Das Ziel der Brücke ist: Traditionen über den Haufen werfen und neue Wege beschreiten. Es geht der Brücke um maximal starken Ausdruck – deshalb auch Expressionismus, da ist das Wort Expression ja schon mit drin. Und um ausdrucksstarke Kunst zu erschaffen, brechen die Kunstschaffenden reihenweise Regeln. Zum Beispiel benutzen sie Farben, die anders sind als in der Wirklichkeit. Egal, Hauptsache es knallt. Und ein grünes Gesicht wie auf dem Kirchner-Bild aus der Kunsthalle Karlsruhe hat halt eine viel beunruhigender, kränklichere Wirkung als eine normale Gesichtsfarbe. Das ist ein bisschen wie mit dem grünen Emoji, dem speiübel ist. Niemand wird grün wie der Grinch im Gesicht, aber es drückt den Zustand, wenn einem schlecht ist, nun mal gut aus. Im Expressionismus geht’s nicht um die Frage: Welche Farbe hat der Baum? Sondern um die Frage: Welches Gefühl löst der Baum aus? Und danach wählt man dann die Farbe aus.
Die Brücke wollte ihre Emotionen unmittelbar und ungefiltert auf die Leinwand ballern. Daher wurde meist schnell gemalt mit breiten, dynamischen Pinselstrichen. Auch das Selbstbildnis von Kirchner ist so gemalt – zack, zack, zack. Die Striche sind sicher gesetzt und wirken gleichzeitig auch ungestüm. Das Bild scheint einfach fix hingeworfen zu sein, das hat leichte Vibes von: „Oh mist, morgen früh ist Abgabe im Kunstunterricht und ich hab noch gar nichts.“ Apropos Geschwindigkeit: Die Brücke-Künstler erfanden die Viertelstunden-Akte. Ihre Modelle wechselten alle 15 Minuten die Pose, so zwangen sich die Künstler schnell zu zeichnen und vermieden erstarrte, langweilige Posen. Also alle 15 Minuten neu: „Und geht dabei was in die Hose, kommt schon gleich die nächste Pose.“ Kleines Gedicht von mir, so könnt ihr es euch merken.
Auf expressionistischen Gemälden werden die Formen sehr vereinfacht. Die Brücke-Künstler orientieren sich dafür viel an außereuropäischer Kunst. Auch die Perspektive wird angepasst, wie man es grad braucht, daher erstaunt der klaustrophobische Raum auf dem Bild dieser Folge auch nicht so stark. Wobei es schon lustig ist: Kirchner war Diplomarchitekt – mit geraden, korrekten Räumen und richtiger Perspektive kannte er sich perfekt aus. Als Maler wiederum war er Autodidakt wie fast alle seine Brücke-Kollegen – vielleicht war das sogar ganz hilfreich, um die Malerei anders anzugehen.
Kirchner ist vor allem berühmt für seine Straßenszenen aus Berlin, 1911 zieht er nach dorthin. Hier gründet er zusammen mit Max Pechstein das MUIM: Moderner Unterricht in Malerei Institut. Wobei Institut echt ein großer Name ist, denn es gab nur zwei Schüler. Institütchen hätte wohl etwas besser gepasst. 1913 löst sich die Brücke dann im Streit auf. Auslöser war eine Chronik der Künstlergruppe, die Kirchner verfasst hatte. Darin schrieb er sich so ziemlich alle Innovationen der Brücke selbst zu und erklärte sich zum kreativen Mastermind. Nach allem, was ich euch am Anfang erzählt hab – wer hätte es gedacht? Naja, das war dann das Ende der Brücke, aber nicht das Ende des Expressionismus, denn das Bild dieser Folge ist ja aus dem Jahr 1920. Und bis dahin passiert noch jede Menge in Kirchners Leben.
Wie wurde das Werk beeinflusst? Interessante Inspirationen
Ein ganz wichtiger Einfluss war natürlich Kirchners Biografie. 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus, Kirchner meldet sich 1915 zum Kriegsdienst, aber schon in der Ausbildung bricht er psychisch und physisch zusammen. Fazit: dienstuntauglich. Einige Sanatoriums-Aufenthalte folgen. Kirchner wird eine Alkohol- und Tabak-Abhängigkeit attestiert, später kommt eine Morphium- und Schlafmittel-Sucht dazu. Kirchner ist am Boden. 1919 zieht er schließlich in die Schweiz um, etwas oberhalb von dem Ort Davos, er sucht die Abgeschiedenheit und Ruhe. Hier malt er auch das Selbstbildnis dieser Folge. Der bedrückende Raum, die ungesunde Gesichtsfarbe, die angespannte Körperhaltung – möglicherweise alles Ausdruck seines Inneren Zustands.
Kirchner selbst schreibt in dieser Zeit: „Nur arbeiten, arbeiten und sonst nichts denken, Farben ganz frisch, wie ein Kind alles Schöne geben.“ Aus diesem Zitat spricht die unermüdliche Arbeit und Disziplin, die zu so einer künstlerischen Karriere dazu gehört. Und um das noch mal hervorzuheben: Ja, im Expressionismus wurde gerne schnell gemalt, aber das heißt nicht, dass immer einfach drauf los gepinselt wurde. Kirchner plante viele seine Bilder und bereitete sie mit Skizzen vor. Er war wie besessen von seiner Arbeit von ihm gibt es etwas 25.000 bis 30.000 Werke. Also, mangelnden Arbeitsethos konnte man Kirchner nun wirklich nicht vorwerfen.
Wer hätte das gedacht? Faszinierender Funfact
Für alle von euch, die Gossip lieben, hier eine skurrile Story: 1912 lernte Kirchner die beiden Tänzerinnen Erna und Gerda Schilling in Berlin kennen. Sie waren Schwestern. Und was macht Kirchner? Hat erst mit Gerda was und kommt dann mit ihrer Schwester Erna zusammen. What? Ja, Kirchner – der Sister Twister. Schon eine krasse Aktion. Mit Erna Schilling zog er dann in die Schweiz und blieb mit ihr bis zum seinem Tod 1939 zusammen.
Kurioses aus der Kunstwelt
Das Selbstbildnis aus der Kunsthalle Karlsruhe wurde im Nachhinein von Kirchner noch mal übermalt, um die Farbigkeit zu intensivieren. Das hat Kirchner übrigens öfter gemacht – er nannte das „Restaurierung“, hatte damit aber eigentlich nichts zu tun. Ihm ging es damit, dass sein Werk wie eine logische Entwicklung daher kommt. Sein Stil war in der Schweiz flächiger geworden, ruhiger. Also beruhigte er auch frühere Bilder im Nachhinein. Nach dem Motto: Guckt, es war alles schon im Frühwerk angelegt.
Ja, ihr merkt wieder: Kirchner war sehr um seine Außendarstellung bemüht. Und schlussendlich hat er damit Erfolg gehabt, denn ein Bild von Kirchner seht ihr andauernd in den Nachrichten im Hintergrund: „Sonntag der Bergbauern“. Das riesige Gemälde hängt nämlich in Berlin im Kabinettsaal vom Bundeskanzleramt. Dass dieses Bild ständig im Fernsehen ist, das hätte Kirchner safe gefallen. Der „Sonntag der Bergbauern“ ist ein Bild aus Kirchners Zeit in der Schweiz. Man kann also durchaus sagen: Von der absoluten Abgeschiedenheit schaffte er es mitten ins politische Zentrum – das ist schon ein steiler Werdegang.
Und wenn ihr Lust habt Kirchner jetzt im Original zu sehen, dann ist hier eine tolle Möglichkeit: Seit Oktober läuft in der Kunsthalle Karlsruhe die Ausstellung „Ich muss zeichnen“ mit etwa 40 Werken. Da die Kunsthalle gerade noch renoviert wird, findet die Ausstellung im ZKM in Karlsruhe statt und das Ganze läuft bis zum 15. Januar 2026. Also, nix wie hin. Und damit sind auch am Schluss dieser Folge angelangt. Danke fürs Zuhören, macht’s gut, Ciao.
Das war der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Mit Jakob Schwerdtfeger. Eine Produktion der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Abonniert unseren Podcast und folgt uns bei Instagram. Habt Ihr Themenwünsche, schreibt uns via Directmessage oder per Mail an digital@kunsthalle-karlsruhe.de.
Neuer Kommentar