Ein Bild wie ein Bio-Laden: Stillleben mit Orangen, Bananen, Zitronen und Tomate von Paula Modersohn-Becker | #65
Shownotes
Was auf den ersten Blick wirkt wie ein unordentlicher Bio-Laden, ist in Wirklichkeit ein Meisterwerk der Moderne: Paula Modersohn-Beckers „Stillleben mit Orangen, Bananen, Zitronen und Tomate“ steht im Mittelpunkt dieser Folge – und ziert auch das Cover der dritten Staffel des Kunstsnacks. Warum gerade dieses unscheinbare Stillleben ein Paradebeispiel für Modersohn-Beckers Größe ist und wie aus Ablehnung Bewunderung wurde, erklärt Kunstcomedian Jakob Schwerdtfeger.
Das Werk in der Onlinesammlung der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe: https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Paula-Modersohn-Becker/Stillleben-mit-Orangen-Bananen-Zitronen-und-Tomate/DA8CAE98447576CA37C7089DB5985D1C/
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Ein Podcast der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe
Text: Jakob Schwerdtfeger
Redaktion: Lara Di Carlo, Tabea Schwarze
Idee: Daniela Sistermanns, Sarah Ball, Tabea Schwarze
Beratung: Thomas Frank
Ton und Schnitt: Lara Di Carlo
Sounddesign und Musik: Milan Fey, Auf die Ohren GmbH
Sprecher Intro und Outro: Martin Petermann, Auf die Ohren GmbH
Sprecherin der Rubriken: Lena Günther, Auf die Ohren GmbH
Foto: Bruno Kelzer | kelzer.de
Gestaltung: Pia Schmeckthal, Auf die Ohren GmbH
Transkript anzeigen
Ein Bild wie ein Bio-Laden: Stillleben mit Orangen, Bananen, Zitronen und Tomate von Paula Modersohn-Becker
Wir haben lange diskutiert: Was wird das Cover der 3. Staffel von Kunstsnack? Und dann kam die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe auf die Idee: Lasst uns doch das „Stillleben mit Orangen, Bananen, Zitronen und Tomate“ aus dem Jahr 1906 nehmen. Denn dieses Stillleben ist ja ein echter Kunstsnack – und dazu noch ein sehr gesunder Snack.
Gemalt hat das gesunde Stillleben die Künstlerin Paula Modersohn-Becker. Ganz ehrlich, ich mochte die Werke dieser Malerin lange nicht so richtig. Und dann habe ich 2021 in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt so eine fantastische Ausstellung über Paula Modersohn-Becker gesehen – danach hat sich meine Meinung komplett gewandelt und jetzt bin ich Fan. Das könnte euch heute auch passieren, denn das Bild aus der Kunsthalle Karlsruhe ist ein absolutes Premium-Painting, ein großartiges Gourmet-Gemälde. Also, viel Spaß!
Schaut euch das Bild dieser Folge gerne an. In den Shownotes ist ein Link zur Abbildung. Und jetzt kommt wie immer die Bildbeschreibung.
Was gibt‘s hier zu sehen? Bildliche Beschreibung
Das Bild dieser Folge ist schnell beschrieben: Wir sehen einen Tisch mit einer unordentlichen weißen Tischdecke. Darauf liegen zwei Bananen, zwei Zitronen, eine Tomate und drei Orangen. Zwei von den Orangen befinden sich in einem kleinen Karton. Wir schauen von oben auf dieses Stillleben drauf. Die Früchte, ja auch Tomaten sind Früchte, nerviges Klugscheißerwissen, aber ist so, also die Früchte scheinen uns durch diese Aufsicht entgegen zu kippen. Zack! Ende der Beschreibung.
Was das Bild spannend macht, ist die Malweise. Denn die ist erstaunlich locker. Das Obst sieht ein bisschen klobig aus, als wäre es von Playmobil. Das Bild wirkt irgendwie, als wäre das Bild mit den Borstenpinseln gemalt worden, die man früher im Kunstunterricht benutzt hat. Genau diese etwas lockere Malweise ist typisch für den Stil von Paula Modersohn-Becker. Das Bild wirkt dadurch flächiger und weniger dreidimensional. Die Obstsorten unterscheiden sich kaum in ihrer Beschaffenheit. Eine Orange hat die gleiche schrundige Oberfläche wie eine Banane. Dadurch achtet man mehr auf die Farben und die Komposition. Auf der linken Seite von dem Stillleben ist deutlich mehr Gelb, durch die Banane, auf der rechten, durch die Orangen, mehr leuchtendes Orange. Dadurch wirkt die Komposition ausgewogen. Ja, auf den ersten Blick wirkt das Bild wie ein unordentlicher Bio-Laden. Aber auf den zweiten Blick ist hier alles ziemlich bewusst platziert.
Was macht das Werk so besonders?
Paula Modersohn-Becker ist berühmt für ihre Porträts und Landschaften. Ihre Stillleben, die sind eher weniger bekannt. Aber genau in den Stillleben wird ihre künstlerische Absicht besonders deutlich: Paula Modersohn-Becker wollte Einfachheit und Größe erreichen. Die vermeintlich simple Anordnung auf dem Stillleben ist ja genau diese Einfachheit – kein super komplexes Motiv. Nein, weniger ist mehr. Und genau an diesem Stillleben-Motiv kann sie dann malerische Größe unter Beweis stellen. Die Früchte boten ihr klare Formen und Farben – ihr ging es darum, dass diese Farben und Formen ein Eigenleben entwickeln, dass die Malerei selbst im Fokus steht. Passend dazu sagte sie: „Der große Stil der Form verlangt auch einen großen Stil der Farbe.“ Das Zitat ist von 1906 und im selben Jahr entstand aus das Bild aus der Kunsthalle Karlsruhe.
Wer hätte das gedacht? Faszinierender Funfact
Paula Modersohn-Becker hat einen Meilenstein in der Kunstgeschichte geschaffen. 1906 malte sie ein Selbstporträt. Und das Besondere war: mit Oberkörper frei. Das war das allererste Mal in der europäischen Kunstgeschichte, dass sich eine Frau selbst nackt malt. Also war das auch ein wichtiges Bild für weibliche Selbstbestimmung. Auf dem Bild malt sie sich schwanger, dabei war sie es zu dem Zeitpunkt gar nicht. Und mein Lieblingsdetail an dem Bild ist: Paula Modersohn-Becker schrieb auf die Leinwand: „Dies malte ich mit 30 Jahren an meinem 6. Hochzeitstage.“ Tja, allerdings war es ihr fünfter. Naja, das ist dann wohl künstlerische Freiheit. Die perfekte Ausrede: Ich hab deinen Geburtstag vergessen? Ne, das ist nur künstlerische Freiheit. Und von dieser Freiheit hat sich Paula-Modersohn-Becker viel genommen, wie ihr gleich hören werdet.
Wer hat‘s gemacht? Künstlerin im Spotlight
Paula Modersohn-Becker wird 1876 in Dresden geboren und stirbt 1907 in Worpswede. Sie wird also nur 31 Jahre alt. In ihren 14 Schaffensjahren hat sie trotzdem wahnsinnig viel zustande gebracht: 750 Gemälde und circa 1000 Zeichnungen. Stabil!
Zeitlebens hat sie daran gearbeitet den Ausdruck ihrer Bilder zu steigern. Allerdings ging das an der breiten Masse vorbei. Teilweise stieß ihre Kunst sogar auf heftige Ablehnung. Bei ihrer ersten Ausstellungsbeteiligung stellte sie zusammen mit der Künstlerin Marie Bock aus. Die Kritik in der Zeitung war vernichtend: (ich zitiere) „Für die Arbeiten der beiden genannten Damen reicht der Wörterschatz einer reinlichen Sprache nicht aus und bei einer unreinlichen wollen wir keine Anleihe machen. Hätte eine solche Leistungsfähigkeit auf musikalischem oder mimischem Gebiet die Frechheit gehabt, sich in den Konzertsaal oder auf die Bühne zu wagen, es würde alsbald ein Sturm von Zischen und Pfeifen dem groben Unfug ein Ende gemacht haben…“
Wow, ist das brutal und taktlos. Respekt, dass Paula Modersohn-Becker trotzdem dabeigeblieben ist. Das ist echt so hart, gnadenlos und vernichtend - krass, dass sie weiterhin danach gegen den Strom geschwommen ist. Ich finde das so bewundernswert diesem Gegenwind standzuhalten. Man kann durchaus sagen, dass Paula Modersohn-Becker eine verkannte Künstlerin war. Zu Lebzeiten verkaufte sie nur etwa fünf Bilder. Dazu gibt es ein sehr passendes Zitat von ihrem Mann, dem Maler Otto Modersohn. Der meinte: „Keiner kennt sie, keiner schätzt sie – das wird anders werden.“ Und ohja und wie sich das geändert hat! Heute ist Paula Modersohn-Becker eine der berühmtesten Malerinnen Deutschlands. Für sie wurde 1927 ein eigenes Museum in Bremen erbaut. Das ist weltweit das erste Museum, das einer Malerin gewidmet wurde. Also auch hier hat Paula Modersohn-Becker Kunstgeschichte geschrieben.
Immer wieder hielt sich Paula Modersohn-Becker in Paris auf und ließ sich hier viel von den Museen und zeitgenössischer Kunst anregen. Außerdem wurde sie Mitglied der Künstlerkolonie Worpswede. Das war ein Ort in Norddeutschland, wo sich Kunstschaffende in einem Moorgebiet ansiedelten. Man wollte sich der Natur verbunden fühlen. Wie viele um die Jahrhundertwende suchte man hier nach Ursprünglichkeit. Auch Paula Modersohn-Becker malte gerne die einfachen Leute, die Bauern und die Moorlandschaft. In der Künstlerkolonie Worpswede strebte man nach einer schlichten und klaren Malerei. Da passte Paula Modersohn-Becker ganz wunderbar rein. Ihre Stärke war es im Unscheinbaren die große Kunst zu entdecken. Und genau dafür ist das Stillleben aus der Kunsthalle Karlsruhe ein hervorragendes Beispiel. So, damit sind wir durch mit dieser Folge, die nächste erscheint in zwei Wochen. Ich hoffe, ihr habt ein bisschen was mitgenommen und hattet Spaß. Macht’s gut, bis dann, Ciao.
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