Freakshow aus Ton: Juste Milieu und Le ventre législatif von Honoré Daumier | #53
Shownotes
Wer so porträtiert wird, hat nichts mehr zu lachen. Honoré Daumier stellte 32 Grimassen aus Ton dar, die an Bösewichte aus Comics erinnern. Bei den komischen Fratzen handelt es sich jedoch um die politische Elite Frankreichs. Weshalb deren adelige Besetzung den Bürger*innen ein Dorn im Auge war und wieso Daumier für seine kritische Kunst sogar im Gefängnis landete, erzählt Kunstcomedian Jakob Schwerdtfeger in diesem Kunstsnack.
Die Figurengruppe aus Ton in der Onlinesammlung der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe: https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/alle-werke/?q=text+all+%22*Honor%C3%A9%20Daumier*%22+and+text+all+%22*Ton*%22
Die Druckgrafik in der Onlinesammlung der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe: https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Honor%C3%A9-Daumier/Le-ventre-l%C3%A9gislatif/E7E7B70E44729C2C8907D39343A65984/
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Ein Podcast der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe
Text: Jakob Schwerdtfeger
Idee und Redaktion: Daniela Sistermanns, Sarah Ball, Tabea Schwarze
Beratung: Thomas Frank
Ton und Schnitt: Stefan Lautenschläger und Lara Di Carlo
Sounddesign und Musik: Milan Fey, Auf die Ohren GmbH
Sprecher Intro und Outro: Martin Petermann, Auf die Ohren GmbH
Sprecherin der Rubriken: Lena Günther, Auf die Ohren GmbH
Foto: Pierre Jarawan
Gestaltung: Bureau Mitte Designagentur, Frankfurt
Transkript anzeigen
Kunstsnack. Ein Podcast der Staatlichen Kunsthalle KarlsruheFreakshow aus Ton: Honoré Daumier, Juste Milieu und Le ventre législatif (1834)
Heute geht’s um einen Künstler mit Humor. Ein Künstler, der sich alles selbst beigebracht hat. Ein Künstler, der für seine Kunst sogar in den Knast ging: Honoré Daumier! Außerdem gibt’s heute eine Premiere bei Kunstsnack. Es geht nicht nur um ein Kunstwerk aus der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, sondern um eine ganze Reihe an Kunstwerken. Nämlich um eine Gruppe von insgesamt 32 Plastiken. Das Ganze trägt den Titel „Juste Milieu“ und entstand in den Jahren 1832 bis 1835. Das Werk war so brisant, dass es Jahrzehnte lang nicht ausgestellt wurde. Neugierig? Gut so. Los geht’s.
Der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe mit dem Comedian und Kunsthistoriker Jakob Schwerdtfeger.
Gleich beschreibe ich euch die Werke der heutigen Folge, aber ihr könnt euch die auch zusätzlich anschauen. In den Shownotes ist ein Link zu den Abbildungen.
Was gibt‘s hier zu sehen? Bildliche Beschreibung
Ich habe als Kind Überraschungs-Ei-Figuren gesammelt. Die Happy Hippos hatte ich sogar komplett. Die Figuren standen bei mir auf zwei Regalbrettern nebeneinander. Ziemlich ähnlich werden die Plastiken von Honoré Daumier präsentiert – auf zwei gebogenen Stufen, alle Werke schön nebeneinander aufgereiht.
Ok, was stellen diese Plastiken dar? Es handelt sich um Büsten, also um Köpfe mit einer angeschnittenen Schulterpartie. Die Werke bestehen aus Ton und sind jeweils etwa 15 cm hoch. Dargestellt sind allesamt Männer. Ich sag mal so: Hätte Daumier mich so porträtiert, hätte ich mich nicht wirklich gefreut. Es handelt sich hier nämlich um Karikaturen. Die Gesichtszüge sind ziemlich übertrieben. Riesengroße Nasen, komische Fratzen, zerknautschte Gesichter – hier ist alles dabei. Einige gucken griesgrämig, als hätten sie gerade in eine Grapefruit gebissen. Andere lächeln dümmlich vor sich hin. Niemand ist hier vorteilhaft getroffen. Das gesamte Werk sieht aus wie eine Freakshow aus Ton. Manche der Dargestellten erinnern an Bösewichte aus Comics – zum Beispiel Gargamel von den Schlümpfen oder Mr. Burns von den Simpsons. Die haben ja auch beide stattliche Nasen und unsympathische Gesichter. Daumiers Figurengruppe ist ziemlich grotesk und in dieser Übertreibung ziemlich lustig.
Von wann ist das Werk? Historischer Hintergrund
Kurz zum geschichtlichen Kontext: Daumier war ein französischer Künstler. Das Werk dieser Folge entstand 1832 bis 1835. Kurz davor war in Frankreich die sogenannte Juli-Revolution, nämlich 1830. Das war ein Aufstand der Bevölkerung gegen die Eliten. Die Bourbonen, das französische Adelsgeschlecht, wurde gestürzt. Der König musste fliehen und es begann die Julimonarchie, ein liberales Königreich. Louis-Philippe I. wurde der sogenannte Bürgerkönig.
Honoré Daumier war zu dieser Zeit schon als Karikaturist tätig. Aber er war keiner dieser Karikaturisten an der Straße, die Touris lange Nasen und ein breites Kinn malen. Daumier hat politische Karikaturen gemacht, seine Werke waren sozialkritisch. 1832 kam er für seine Karikaturen sogar ein halbes Jahr ins Gefängnis. So schnell geht’s von der Zeichnung in die Zelle.
Politisch setzte sich Daumier für liberal-republikanische Ideen ein. Daumier kämpfte für Presse- und Meinungsfreiheit und allgemein für Gerechtigkeit. Er arbeitete für satirische Zeitschriften. Hier bekam er die Anregung von einem Verleger die Tonfiguren zu machen – die ich Euch beschrieben habe. Bei den Dargestellten handelt es sich nämlich um politische Abgeordnete.
Der Titel der Figurengruppe lautet ja „juste milieu“, übersetzt „die richtige Mitte“. Worum geht’s? Die Leitlinie vom Bürgerkönig Louis-Philippe war „die richtige Mitte“. Die Regierenden sollten nicht in Extreme abrutschen, sondern schön in der Mitte bleiben. Es sollte Politik fürs Volk gemacht werden, aber diese „richtige Mitte“ bestand eher aus Adel und Großbürgertum, sie waren die Machtstützen des Königs. Das war Teilen der Bevölkerung nicht recht und Daumier greift genau das in seinem Werk auf. Allerdings war es damals durchaus eine Ansage die politische Elite dermaßen ins Lächerliche zu ziehen. Es drohte Zensur und, wie schon gesagt, Gefängnis. Deshalb wurden die Tonfiguren erst 1878, ein Jahr vor Daumiers Tod öffentlich gezeigt. Macht euch das klar: Das war über 40 Jahre nach der Entstehung. Diese Arbeiten hatten also echt politische Sprengkraft.
Wie wichtig ist das Kunstwerk?
Mit seiner Figurengruppe aus Ton geht Daumier komplett gegen die Norm. Denn im 19. Jahrhundert war die Skulptur super hoch angesehen. Wichtige Persönlichkeiten wurden mit Skulpturen geehrt. Glatter Marmor, heldenhafte Inszenierung – das war das Ding. Und dann kommt Daumier daher und macht diese deformierten Gesichter von wichtigen Leuten. Natürlich war das schockierend. Es war aber auch ein wichtiger Schritt Skulptur neu zu denken. Weniger Ehrfurcht, mehr künstlerische Freiheit – dazu leistete Daumier einen wichtigen Beitrag.
Was macht das Werk so besonders?
Die Tonfiguren sind Karikaturen in 3D. Das ist an sich schon mal recht ungewöhnlich. Aber noch ungewöhnlicher ist, diese Figuren waren eine Vorlage für eine gezeichnete Karikatur und Druckgrafiken. Normalerweise macht man Vorzeichnungen und dann die Skulptur. Hier ist es umgekehrt. Ich wusste bisher nicht, dass es diese Arbeitsweise auch geben kann. Daumier war wirklich unkonventionell unterwegs.
Also, zuerst gab's die plastische Skulpturengruppe aus Ton, davon inspiriert war dann die Druckgrafik "Le ventre législatif", übersetzt "Der gesetzgebende Bauch". Dieses Blatt befindet sich auch in der Sammlung der Kunsthalle Karlsruhe. Was sieht man darauf? Vier Reihen voller Minister, insgesamt 35. Wieder findet man überzeichnete Gesichter und unvorteilhafte Darstellungen. Keiner der Politiker wirkt charismatisch oder sympathisch. Alle wirken wie eine Schulklasse, bevor die Lehrkraft reinkommt. Manche scheinen zu schlafen, andere plaudern miteinander. Hier scheint niemand an Politik und Veränderung interessiert zu sein. Von diesen Typen möchte man irgendwie nicht vertreten werden.
Und genau das konnte Daumier: Mit seinen Karikaturen Gefühle auslösen und gesellschaftliche Missstände anprangern und das präzise auf den Punkt bringen. Daumier äußert diese Kritik nicht plump, es ist kein stumpfer Humor nach dem Motto: „Haha, Olaf Scholz trägt 'ne Augenklappe.“ Nein, Daumier ist subtil, vielschichtig und eindrücklich. Das macht ihn zu einem absoluten Meister der Karikatur! Und Daumier ist wirklich ein überirdischer Künstler, denn 1999 wurde ein Asteroid nach ihm benannt. Der Asteroid 12612 heißt Daumier. Und vielleicht wird dieser Asteroid eines Tages irgendwo einschlagen und zwar mit derselben Wucht wie damals Daumiers Karikaturen. Bäm! Was für ein mittelmäßiger Übergang.So, damit sind wir auch schon wieder am Ende dieser Folge. Ich hoffe, es hat euch gefallen. Abonniert gerne diesen Podcast. In zwei Wochen geht’s weiter mit der nächsten Folge von Kunstsnack, bis dann, Ciao.
Das war der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Mit Jakob Schwerdtfeger. Eine Produktion der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Abonniert unseren Podcast und folgt uns bei Instagram. Habt Ihr Themenwünsche, schreibt uns via Directmessage oder per Mail an digital@kunsthalle-karlsruhe.de.
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